FRANSEN UND BORSTEN
Kunstverein Wolfenbüttel, 2001
WERDEN
Da sind die normalen schwarzen Plastikeimer, die auf weißen mehrgliedrigen tentakelartigen Schläuchen ruhen und sich so jederzeit aus dem Ausstellungsraum in eigenartigen Fortbewegungsrhythmen entfernen könnten. Da sind diese kleinen mal runden, mal länglich abgerundeten weißen Flächen, die auf schwarzen Borsten stehen und nacheinander besehen, so etwas wie eine kartographische Grenzlinie im Raum abzeichnen. Doch auch sie scheint unterwegs zu sein, könnte ihre schlanken Füßchen jederzeit bewegen und die Funktion einer borderline absurd werden lassen. Und da sind Objekte aus Folien, die schon längst unterwegs sind, die sich kontrahierend und streckend wie Raupen vorwärtsbewegen, unterstützt wiederum von Borsten oder Stecknadeln mit bunten Köpfen. All dies' betrachten wir von oben, aus der Warte des fliegenden "Punktes" in "Eduards Traum" von Wilhelm Busch oder des "Luftschiffers Giannozzo" des Jean Paul. Für beide Autoren ist die Erde aus der Luft eine Fläche, auf der es wimmelt, poetisch wimmelt, ein Welttheater en miniature, in dem wir mittels Imagination trotz Ferne durchaus aber eine Rolle spielen dürfen.
So kann es vorkommen, daß der Luftschiffer Giannozzo hoch oben in den Wolken in die Tiefen der Gewässer sieht: "Die Erde war mir jetzt ein Meeresboden voll ungestalteter Seetiere, zu welchem ich mit meiner Taucherglocke gar nicht mehr herunterwollte, ob ich gleich neue Möbeln einzukaufen hatte." Und ähnlich scheint es mit den Bodenskulpturen von lsabel Schmiga zu sein: Unsere erhabene Position, unser über den Dingen sein, läßt uns wahlweise den Galerieboden als Meeresgrund, Kartographie oder bewegte Landschaft erscheinen. Nichts ist hier festgelegt, alles ist offen für den "Denkraum".
An den Wänden geht es anders weiter. Auch wieder Borsten, Stecknadeln und Durchsichtigkeiten, die aber jetzt auf den direkten Blick hin konzipiert sind. Wir müssen uns den Reliefs, hängenden Skulpturen und Zeichnungen nähern, wie mit der Lupe und andererseits doch ein Auge für die gesamte Raumkomposition haben. Denn all diese Dinge, die lsabel Schmiga dort an den Wänden anbringt, setzen sich in Beziehung zum Ort und in Beziehung untereinander. Vorhandene Unordentlichkeiten des Raums werden von der Künstlerin mit behutsamer Hand thematisch aufgegriffen und hervorgehoben. Unsichtbare Kontaktlinien durchziehen den Raum der Präsentation, um zu repräsentieren.
Das Genähte, Gefaltete, Geklebte, Punktierte, Durchstochene oder durch Striche und Fäden Linierte bewegt diese subtilen Objekte der Aufmerksamkeit. Sie zwingen uns zur Nähe, da wir sonst nichts sehen, nichts von ihrer Struktur und ihrem spezifischen Geist erahnen. In lsabel Schmigas Kunst- und Wunderkammer der Phantasie ist eine Welt ausgebreitet, die uns unbekannt ist und doch an physikalisch-naturwissenschaftliche Experimente erinnert, an eine präzise Anschaulichkeit, hinter der ein geheimer Sinn steckt. Sie sind Objekte einer "Kunstvollen Wissenschaft" (Barbara Maria Stafford), die uns ihre minutiösen Ergebnisse vorführen, ohne uns allerdings einen Schlüssel zur Interpretation in die Hand zu geben.
Wir betrachten vor allem Reihungen des Kleinen, die sich als Differenz in Wiederholung permutieren oder Überlappungen, Palimpseste, die sich selbst durchscheinend zum Gegenstand haben. Das macht die Objekte trotz ihrer Kleinheit zu autonomen Gegenständen, zu Subjekten der Kontemplation.
Es ist eine Funktion des Kleinen, je mehr es zu verschwinden droht, auf sich selbst zu verweisen. Wenn wir alter und neuerer Theorien gemäß davon ausgehen, daß im Mikrokosmos die Welt enthalten ist, verdeutlicht die Kleinheit eine Dimension der Erkenntnis auf einer perspektivischen Basis, die dem Nachdenken erst seinen Raum gibt. Werden wir von der Größe beeindruckt, muß das Kleine auf sich selbst aufmerksam machen, um groß zu werden. Aber indem es auf diese Weise sich anstrengt, ist es reichhaltiger als das Große. Es "wird", es "ist" nicht. Es intensiviert die Betrachtung und hat, wie Gilles Deleuze und Felix Guattari am Beispiel Franz Kafka aufzeigen, einen Hang zu Wucherung.
Die Objekte an den Wänden und auf dem Boden sind nicht nur in sich geknüpft, sondern imaginär miteinander verknüpft, eine Kunst, die es nur in Kleinheit geben kann. Damit schließen sie Hierarchien aus. Sie sind demokratisch bis zum Anarchismus. Sie koexistieren, ohne sich gegenseitig ihrer eigentümlichen Freiheit zu berauben.
Ein kleines Objekt sucht sich immer ein weiteres, um sich zu bestätigen, um die "Deterritorialisierung" vorwärts zu treiben. Ist es in sich schon rhythmisiert, infiziert es uns durch den Reichtum seiner Bewegung des "Werdens". Es kann, und das ist seine Kraft, komisch, ernst, vieldeutig, einseitig, morphologisch, funktional, heiter oder melancholisch "werden".
Es kann Handwerklichkeit und Virtuosität offen demonstrieren oder sich im Gehäuse des Eigensinns verschließen.
Das sind die Verhältnisse, die lsabel Schmiga ins Leben setzt, und die produktiv "werden", weil sie auf der subtilen und bewegten Unbändigkeit der kleinen Form beharren.
MICHAEL GLASMEIER
Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule für Künste Bremen
Wilhelm Busch, Eduards Traum, in: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Herrsching 1978 · Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden, Basel 1996 · Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992 · Gilles Deleuze, Felix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt am Main 1976 · Gabriele Dürbeck u.a. (Hg.), Wahrnehmung der Natur - Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001 Jean Paul, Titan, in: Sämtliche Werke, Frankfurt am Main 1996 · Barbara Maria Stafford, Kunstvolle Wissenschaft Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung, Dresden 1994 · Edgar Wind, Das Experiment und die Metaphysik, Frankfurt am Main 2001