EIN TREPPENHAUS FÜR DIE KUNST
Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur, Hannover, 2000
HANDLAUF UND BLICKKONTAKT
Der Ausstellungsort ist ein Treppenhaus - das Domizil einer elliptischen Spirale, die sich in großer Geste und mit fließender Bewegung zum obersten Stockwerk windet. Es ist ein funktionaler Ort, ein Raum, der einen nicht aufhält. Sein Tagesgeschäft ist die Bewegung: von oben nach unten, von unten nach oben und zwischendurch in die angrenzenden Flure hinein. Kein Möbel, nichts Bleibendes hat sich hier abgelagert. Nur Geräusche wie das Schlagen der Türen, das Klappern davoneilender Schritte und das Gemurmel von Stimmen hinterlassen für einen kurzen Augenblick ihre Spur.
Um zu den Arbeiten von lsabel Schmiga zu gelangen, muß man dem Geländer folgen. Auf dem dunklen Boden des Parterre hat das Gemurmel Form gewonnen. Von dort aus weisen Kugeln, von einem Handlauf ausgeworfen, die Bahn in den fünften Stock. Weißer Staub hat sich um das Geländer gelegt, wurde von Hand zu einem Körper verdichtet, der der Hand nun keine sichere Führung mehr zu geben verspricht. Zu empfindlich und porös erscheint einem die rauhe Oberfläche des Gipses, zu fremd ist einem der Handlauf selbst geworden, als daß man ihn nur beiläufig berühren könnte. Wie ein riesiger Fühler streckt er sich uns, die wir ihn jahrelang begreifen durften, spielerisch tastend hier entgegen.
Der Handlauf hat seine Richtung gewechselt. Vom Parterre aus möchte man im Ende gleich den Anfang sehen, versucht man, sich einen Weg zu bahnen, der einem die Herkunft endlich sichtbar macht. Doch der Weg hinauf muß abgeschritten werden. Gleich einer aufgebrochenen Narbe hält uns der Handlauf das Innere seiner abwärts führenden Bewegung vor Augen. Nunmehr ganz Murmelbahn zeigt er das Widerspiel der in ihm wirkenden Kräfte, zeigt er uns Kugeln, die seine rauhen Innenseiten auf ihrem Weg nach unten schleifen, und Kugeln, die er, haben sie den ersten Schwung verloren, in der Sprödigkeit seines Körpers an sich hält. Dem Handlauf folgend, spannt sich nun in diesem Aufstieg, der der Richtung trotzt, die Feder eines Laufwerks und sammelt sich die Energie, die dieses Spiel zum Laufen bringt.
Im fünften Stockwerk angekommen, zeigt ein Becken das Ende der Suche und den Anfang des Spiels - eine modellierte und geschliffene Form aus Gips, halb Schale, in der die Kugeln liegen, halb Trichter, durch den diese in die Spur geraten. Unter dem Schlund der Bahn, der hier zum Einsatz fordert, ist auch der alte Handlauf freigegeben, der, unbeirrt von diesem Spiele, seinen Weg nach oben nimmt. Doch welchem Läufer soll man nun zum Start verhelfen, welcher wird das Rennen machen? Scheinbar gleich, sind sie dann alle doch verschieden: oval und rund, glatt und einige vom Aufprall im Parterre recht angeschlagen. Rien ne vas plus: ein Selbstläufer ist unwiderruflich auf seinen Weg gebracht. Erst rollt er langsam und dann immer schneller. Für einen Moment honorieren das Laufgeräusch der Kugel und der Blick von oben auf die ferne Bahn den mühsamen Aufstieg. Doch bereits im vierten Stock verliert sich der Überschwang. Die Kugel stockt. Es ist ein kurzes Schwanken zwischen den Geschwindigkeiten, bevor sie am Widerstand der führenden Bahn ausläuft. Erneut fordert sie zum Anstossen auf, erneut muß man die Ferne des Blicks gegen die Nähe des Eingriffs tauschen und selbst die Hand anlegen, um die Kugel doch noch dem Ende entgegenzutreiben.
Im fünften Stock, der Murmelbahn gleich gegenüber, hat lsabel Schmiga eine weitere Plastik an die Wand gebracht. Doch anders als HANDLAUF ist sie, industriell gefertigt, dem Haptischen scheinbar nicht verbunden. Augenzwinkernd wird hier BLICKKONTAKT gefordert. Vierundzwanzig Ellipsoide steigen an der Wand hinter der Treppe zur Decke empor. Ungeordnet heben und senken sie ihre schweren Körper über den Horizont der Fußleiste. Fest an die Wand gebunden, hinterfragt ihr Drang, sich in den Raum zu richten, die eigene Gebundenheit. Verwirrung ist gestiftet und läßt den Zwillingskörper des Schwarz-Weiß nun ganz zur Reibungsfläche werden. Fast unmerklich stossen sie sich voneinander los, tasten sich die Bäuche der verrückten Körper aneinander entlang.
Man könnte auch an Augen denken: Augen, die beobachten, Augen, die sich gleichsam selbst betrachten. Wie ein vielköpfiges Ungeheuer, das uns lehrt, wie man sein Sehen selber sieht, steht uns, in der Negativform des Blicks, das Nicht-Sehen-Können fest vor Augen. An wen soll man sich wenden, mit wem soll man Kontakt aufnehmen? Die Ellipsoide an der Wand können keine Antwort geben. Ihre polierten Oberflächen bleiben im Austausch der Blicke seltsam blind. In der Umkehr des Schwarz-Weiß vermag das Licht nicht in sie einzudringen. Abschirmend dehnt der schwarze Körper die Spiegelung auf seiner Fläche, während der weiße sie in diffusen Nebel taucht. Diese nicht ortbare Tiefe ist es, die sich wie ein Glas zwischen das Sehen legt und einen glauben läßt, Aug in Aug mit einem Fisch zu sein. »Sehen und gesehen werden«, lautet die Faustregel des Blickkontakts, jedoch im Zwiegespräch der vielen Blicke schreibt sie sich neu: »Ich sehe was, was Du nicht siehst«, kommt es einem von der Wand entgegen.
In der Vielfalt umherirrender Körper verliert man den Überblick und damit zugleich den Grund unter den Füßen der eigenen Sicht. Losgelöst von jeder Perspektive ist man bodenlos geworden. Kann man die Körper nicht von oben lesen? Der freie Flug der Überlegung entzerrt die Ellipsoide, läßt sie zu Kugeln werden auf dem Billardtisch der Wand. Der Handlauf kommt nun in den Sinn, dessen finales Bild der weißen Murmeln auf dem dunklen Boden des Parterre von oben aus nicht greifbar war. Hier steht das Negativ vor Augen. Sofort will man die Hand anlegen, versucht man sich, in immer neuen Ordnungen der Ordnung, einen Begriff zu bilden, von dem, was sichtbar ist. Doch in den elliptischen Bahnen zwischen Sein und Schein verfangen, läßt sich nur in Gedanken vergewissern, was hier die Frage ist.
BARBARA MAUCK